Röntgen im Ersten Weltkrieg
Dienstag, 12. August 2014
Granaten, Gewehre, Giftgas: Die Waffen im Ersten Weltkrieg waren verheerend. Doch vielen Verwundeten konnte geholfen werden dank der neuen Röntgentechnik. Das Deutsche Medizinhistorische Museum zeigt 100 Jahre alte Aufnahmen und geht auf eine "Spurensuche".
Ausstellung in Ingolstadt vom 17.7. - 28.9.2014 (verlängert bis 26.10.2014)

Deutsches Medizinhistorisches Museum Ingolstadt

Mehr als neun Millionen tote Soldaten, viele Millionen Verwundete - die Bilanz des Ersten Weltkrieges erschüttert bis heute. Einfache Schusswunden zählten noch zu den harmloseren Verletzungen. Manche Soldaten verloren Arme, Beine oder gar Teile ihres Gesichts, sie wurden blind oder gelähmt.

Geschosssplitter im Körper wurden sichtbar

Ärzte versuchten nach Kräften, den Schwerverwundeten zu helfen und setzten dabei auf eine neuartige Technik: auf Röntgenbilder. "Diese Aufnahmen waren für viele verletzte Soldaten lebensrettend, weil man Geschosssplitter im Körper entdeckte, die man sonst nicht gefunden hätte", sagt Ulrich Hennig, Leiter des Deutschen Röntgenmuseums im nordrhein-westfälischen Remscheid. "Dann wären sie an Blutvergiftung gestorben."  

Projektile verschwinden im Körper

Ludwig Bergmann, ein Bäcker aus München, zählte zu den Patienten, die bereits kurz nach Kriegsbeginn 1914 von der damals erst rund 20 Jahre alten Technik profitierten. "Erhielt am 22. August bei Ingersheim mit Infanteriegeschoss Schuss durch den linken Unterschenkel. War 16 Tage im Lazarett in Colmar", heißt es im Krankenblatt des Lazaretts Herzog Carl Theodor in München. Vom Unterschenkel glitt das Projektil bis in die Ferse, wie das Röntgenbild eindrucksvoll zeigt, das noch bis 28. September in der Ausstellung "Spurensuche" im Deutschen Medizinhistorischen Museum in Ingolstadt zu sehen ist.  

Der "mit dem Röntgenapparate bewaffnete Arzt"

Gerade in solchen Fällen waren die Aufnahmen besonders hilfreich, ebenso wie bei Knochenbrüchen. Auch Verletzungen an inneren Organen wie der Lunge wurden für geschulte Mediziner sichtbar. Das erkannten auch die Militärärzte und schrieben deshalb schon 1901 an die Bayerischen Garnisonslazarette: "Was früher kaum bei einer sorgfältig gemachten Leichenöffnung zu entdecken war, findet heute der mit dem Röntgenapparate bewaffnete Arzt am lebenden Körper mit Leichtigkeit." Die Ausstattung der Krankenstationen mit den neuartigen Geräten sei daher eine "zwingende Notwendigkeit".  

Das Militär entwickelte sogar tragbare Röntgenapparate, erklärt Hennig. Mit Pferdefuhrwerken oder Fahrzeugen wurden sie an die Front transportiert. Den notwendigen Strom fürs Durchleuchten lieferte dann die Lichtmaschine eines Lastwagens.  

Für den Soldaten Bergmann war die Entdeckung des Geschosses an der Ferse ein Segen, konnte es doch am 18. September 1914 in einer gezielten Operation entfernt werden, auch wenn eine Gehstörung wegen einer Nervenschädigung zurück blieb. Nach einer Rückkehr in ein Ersatzbataillon verließ er den Kriegsdienst am 1. Mai 1915, kehrte in sein Leben als Bäcker zurück und heiratete schließlich 1926.  

Ein Album mit Röntgenbildern von 81 Soldaten

Auch das Schicksal vieler anderer Soldaten ist bekannt, die in der zum Lazarett umfunktionierten Augenklinik des bayerischen Herzogs Carl Theodor untersucht wurden. Das liegt vor allem an einem seltenen Schatz: Einem Album mit den Röntgenbildern von 81 Soldaten, jeweils ergänzt mit den wichtigsten Daten des Verwundeten. Es war ein Geschenk an Maria Josepha, die Frau des Herzogs, zu ihrem 59. Geburtstag am 19. März 1916. Das historische Dokument steht im Mittelpunkt der Ingolstädter Ausstellung. 

Eine ungewöhnliche Gabe für eine aus damaliger Sicht emanzipierte Frau, Tochter des Exilkönigs von Portugal. Nach dem Tod ihres Mannes 1909 führte die bescheidene, aber tatkräftige Dame die Klinik fort und bot sie bei Kriegsbeginn auch als Lazarett an. Berührungsängste kannte die Adelige nicht. Mit Hingabe kümmerte sie sich um die Kranken, wie auch das Röntgenalbum beweist. "In dankbarer Verehrung von den Verwundeten Ihres Lazarettes", prangt in Goldlettern auf dem mit Königskrone und Wappen verzierten Ledereinband.  

Wie ein Poesiealbum verletzter Soldaten

Für Historiker ist das Dokument mehr als ein Album. Es erlaubt, die Geschichte einzelner Soldaten nachzuvollziehen. Die Leiterin des Medizinhistorischen Museums, Marion Ruisinger, hat anhand der Bilder viele Schicksale in Kleinarbeit zusammengetragen und für die Ausstellung aufbereitet. "Dieses Poesiealbum von verletzten Soldaten, diese repräsentative Aufmachung mit Ledereinband und Golddruck - und innen das Grauen, das fand ich sehr ambivalent und irritierend." Sie war fasziniert: "Röntgenbilder machen den Menschen platt, eindimensional, durchsichtig, ästhetisch. Da fehlt das Blut, da fehlt die Wunde, das Leid kann man sich nur ein bisschen dazudenken." 

Der Radiologe: nach dem Krieg etabliert

Dierk Vorwerk, Chefarzt des Instituts für Radiologie am Klinikum Ingolstadt, kann die bisweilen etwas geisterhaft wirkenden Aufnahmen deuten. Sie seien von außerordentlicher Qualität, hat er bei einer Durchsicht des Albums festgestellt. Er spricht von einer Revolution: "Durch den Ersten Weltkrieg hat sich die Radiologie als Fachgebiet richtig etablieren können", sagt der Mediziner. "Vorher war das immer ein Anhängsel der klassischen Inneren Medizin."  

Das große Sterben an der Front konnten die Röntgengeräte aber nicht verhindern: Von Granaten zerfetzte Körper, von Kugeln durchsiebte Soldaten oder Männer, die den wabernden Giftgasen zum Opfer fielen. Wer es zum Durchleuchten schaffte, dem ging es meist vergleichsweise gut.

Die Leistung Wilhelm Conrad Röntgens

Großes Glück war nach Ansicht Hennigs zudem die Selbstlosigkeit des Erfinders Wilhelm Conrad Röntgen. Als kaiserlicher Beamter habe der Forscher an der Universität Würzburg es als seine Pflicht angesehen, seine Entdeckung der Allgemeinheit zur Verfügung zu stellen. Der Physiker und Leiter des Deutschen Röntgen-Museums ist überzeugt: "Röntgen hätte ein Patent anmelden können, dann hätte irgendeine Firma den Daumen drauf gehabt und dann hätte es im Ersten Weltkrieg sehr viel mehr Tote gegeben."

von Cordula Dieckmann, dpa

 

LINK zur Ausstellung