Deutschlands Gesundheitssystem erlebt einen historischen Wandel
Montag, 20. Januar 2020
19.01.2020 | WELT AM SONNTAG, Anette Dowideit Chefreporterin Investigativteam

Das deutsche Gesundheitssystem erlebt einen Strukturwandel mit weitreichenden Folgen für Patienten und Kassen. Immer mehr niedergelassene Fachärzte verkaufen ihren Arztsitz an Firmen oder internationale Finanzinvestoren.

Unnötige Behandlungen und bis zu einem Drittel höhere Kosten: Investoren kaufen deutsche Arztpraxen – mit Folgen für Patienten und Kassen. Experten fordern Beschränkungen. Das Gesundheitsministerium reagiert.

Das deutsche Gesundheitssystem erlebt einen Strukturwandel mit weitreichenden Folgen für Patienten und Kassen. Immer mehr niedergelassene Fachärzte verkaufen ihren Arztsitz an Firmen oder internationale Finanzinvestoren. Bundesweit arbeiten bereits rund 18.000 der insgesamt 94.000 Fachärzte, die Kassenpatienten versorgen, als Angestellte von Medizinischen Versorgungszentren.

Seit der gesetzlichen Öffnung hierfür sind etwa 4100 solcher Zentren entstanden, die teilweise bundesweite Arztketten bilden. Hinter fast jedem sechsten Zentrum stehen Investorenfirmen, teils mit Sitz in Steueroasen wie den Cayman Islands.

Das hat Folgen für die Patienten, wie Recherchen von WELT AM SONNTAG zeigen. Auf Anfrage teilte die Kassenzahnärztliche Bundesvereinigung mit, dass Zahnarztzentren in Investorenbesitz im Jahr 2018 pro Patient rund ein Drittel höhere Kosten bei den Kassen abgerechnet haben als Praxen in Arztbesitz. Zudem stieg bei den Augenärzten etwa in Baden-Württemberg die Zahl der ambulanten Operationen am grauen Star in den vergangenen zehn Jahren parallel zur Zunahme der Medizinischen Versorgungszentren um mehr als ein Viertel.

Diese Zahlen nähren Befürchtungen von Gesundheitspolitikern, Ärzte- und Kassenvertretern, dass wegen ambitionierter Gewinnerwartungen mehr und teils unnötige Behandlungen in Behandlungszentren von Investmentfirmen verordnet und mit den Kassen abgerechnet würden.

Verkauf bringt höhere Preise als Übergabe an andere Ärzte

Die Deutsche Apotheker- und Ärztebank sieht die Entwicklung erst an ihrem Beginn. „Wir gehen davon aus, dass die Zahl der Verkäufe von Arztsitzen in den kommenden Monaten und Jahren deutlich anziehen wird“, sagt Daniel Zehnich, der Leiter des Bereichs Gesundheitsmärkte und Gesundheitspolitik der Bank. Denn viele niedergelassene Ärzte stünden kurz vor dem Ruhestand. Verkauften Ärzte Praxen an Investoren, ließen sich teils deutlich höhere Preise erzielen als bei der Übergabe an andere Ärzte.

Der SPD-Gesundheitsexperte Karl Lauterbach fordert sogar, den Verkauf von Arztsitzen an Finanzinvestoren zu verbieten. „Wenn solche stark profitorientierten Mehrheitseigner die ambulante Versorgung betreiben, entstehen unüberwindbare Interessenkonflikte“, sagt der Bundestagsabgeordnete. Das Geschäftsmodell der Fondsgesellschaften bestehe darin, die Praxisverbünde profitabler zu machen und sie anschließend gewinnbringend weiterzuverkaufen.

„Umbau zu gewerblich orientiertem Gesundheitswesen“

Auch die AOK, die größte gesetzliche Krankenkasse, fordert Einschränkungen für die Verkäufe. „Auf jeden Fall müssen die Eigentümerstrukturen in diesem Bereich und die wirtschaftlichen Verflechtungen transparenter werden“, sagt Martin Litsch, der Vorstandsvorsitzende des AOK-Bundesverbandes.

Für den Chef der Kassenzahnärztlichen Bundesvereinigung, Wolfgang Eßer, ist die Verkaufswelle ein „unumkehrbarer Systemumbau hin zu einem gewerblich orientierten Gesundheitswesen“. Auch der Vorstandsvorsitzende der Kassenärztlichen Bundesvereinigung, Andreas Gassen, warnt vor dem Entstehen „konzernartiger Strukturen“, die möglicherweise die freie Arztwahl der Patienten beschränken könnten.

Die Betreiber der Arztketten bezeichnen diese Sorgen als unbegründet. Die Praxisverbünde erlaubten es den Ärzten vielmehr, sich „voll der Patientenversorgung zu widmen“, statt einen Großteil ihrer Zeit für die Verwaltung aufwenden zu müssen, sagt Daniel Wichels, Chef der Zahnarztkette Zahneins und Vorsitzender des Bundesverbandes für nachhaltige Zahnheilkunde, der die Interessen zahnmedizinischer Versorgungszentren vertritt.

Derzeit steigen Investoren oft auf Umwegen in die ambulante Versorgung ein: Sie kaufen zunächst Kliniken, die dann als Träger der Facharztketten fungieren. Auch Hersteller von Medizintechnik und Medikamenten nutzten in den vergangenen Jahren diesen Weg. In Hamburg fiel ein Hersteller von Krebsbehandlungsmitteln auf, der auf diesem Weg Onkologiezentren übernahm und über diese den Absatz seiner Medikamente angekurbelt haben soll. Derzeit ermittelt die Staatsanwaltschaft gegen ihn.

Gesetzliche Krankenkassen machen enorme Verluste

Zum ersten Mal seit 2015 schreiben die gesetzlichen Krankenkassen wieder Verluste. 2018 konnte man noch einen Überschuss von zwei Milliarden Euro erzielen. Die meisten Krankenkassen wollen ihren Zusatzbeitrag aber erst ab 2021 erhöhen.

Die Linke-Fraktion kritisierte 2019 in einem Antrag im Bundestag, Patienten könnten kaum noch feststellen, wem ein Behandlungszentrum gehöre und an wen die Gewinne flössen. Sie fordert eine Offenlegungspflicht der Eignerstrukturen.

Das Gesundheitsministerium kündigte nun an, „zeitnah ein Gutachten zur Weiterentwicklung der rechtlichen Rahmenbedingungen“ für solche Zentren in Auftrag zu geben. Es solle Klarheit über mögliche Zusammenhänge zwischen den Trägerstrukturen und der Versorgungsqualität bringen.

Dieser Text ist aus der WELT AM SONNTAG.

https://www.welt.de/wirtschaft/article205134106/Medizinische-Versorgung-Investoren-kaufen-Deutschlands-Arztpraxen.html

 

 

MVZ in Investorenhand erneut in der Kritik

 

Die Debatte um investoren-geführte Versorgungszentren und Praxisketten ist am Wochenende nach Medienberichten wieder aufgepoppt. Kommt es durch die Zentren zu einer künstlichen Aufblähung der Leistungsmengen?

Veröffentlicht: 19.01.2020, 18:19 Uhr , Ärztezeitung

MVZ in Investorenhand erneut in der Kritik

Künstliche Linse, die bei Grauem Star eingesetzt werden kann. Kritiker sagen, dass Versorgungszentren in Investorenhand Leistungen wie die Katarakt-Op häufiger anbieten, als indiziert ist.

© obs/BVMed

 

Hamburg. Jedes sechste der gut 4000 Medizinischen und Zahnmedizinische Versorgungszentren ist in der Hand von Finanzinvestoren. Nach einem Bericht in der „Welt am Sonntag“ verursachen Zentren in Investorenbesitz höhere Kosten im Gesundheitssystem als Praxen in Arztbesitz.

Als Beispiele nennt das Blatt, das sich auf Angaben der Kassenzahnärztlichen Bundesvereinigung (KZBV) bezieht, investor-geführte zahnärztliche Versorgungszentren, die 30 Prozent mehr pro Patient abrechneten als herkömmliche Zahnarztpraxen.

 

Und die KV Baden-Württemberg habe festgestellt, dass die Zahl der Operationen am Grauen Star in den vergangenen zehn Jahren um 25 Prozent gestiegen sei, parallel zum Wachstum bei MVZ.

Ermittlungen in Stuttgart

Bereits im Dezember vergangenen Jahres hatte die Polizei in Stuttgart Praxen einer solchen Kette durchsucht. Nun ermittelt die Staatsanwaltschaft wegen gefährlicher Körperverletzung gegen mehrere Ärzte, weil sie Patienten zu nicht indizierten Kataraktoperationen gedrängt haben sollen. Nach Berichten in regionalen Medien hatten sich immer wieder Patienten bei der Bezirksärztekammer über die Ärzte beschwert.

In Hamburg wirft die Staatsanwaltschaft einem Hersteller von Chemotherapiemitteln vor, Arztsitze von Onkologen erworben zu haben, um in den Praxen die eigenen Arzneimittel einzusetzen (wir berichteten).

Befördert würden solche Strukturen offenbar durch Arbeitsverträge der in den Zentren beschäftigten Ärzte, die mit variablen Vergütungsbestandteilen arbeiten, etwa Boni oder Umsatzbeteiligungen bei bestimmten Leistungen.

„Unumkehrbarer Systemumbau“

Der Bericht der „Welt am Sonntag“ hat die Kritik an den Zentren in Investorenhand befeuert, die bereits im Zuge der Diskussion um Teile des Terminservice- und Versorgungsgesetzes (TSVG) heftig geführt worden ist.

So fordere der SPD-Gesundheitspolitiker Professor Karl Lauterbach, den Verkauf von Arztsitzen an Finanzinvestoren ganz zu verbieten. Und der KZBV-Vorsitzende Wolfgang Eßer kritisiere die Verkaufswelle von Ärzten und Zahnärzten, die kurz vor dem Ruhestand stehen, an Investoren als „unumkehrbaren Systemumbau hin zu einem gewerblich orientierten Gesundheitswesen“.

Im Bericht heißt es auch, das Bundesgesundheitsministerium wolle nun „zeitnah ein Gutachten zur Weiterentwicklung der rechtlichen Rahmenbedingungen“ für solche Zentren erstellen lassen. Immer wieder hat es auch Forderungen, etwa von den Linken, gegeben, die Eigentumsverhältnisse von Praxen und Kliniken für Patienten transparent zu machen. (ger)