Orthopädiemuseum - Das gerade Kind
Sonntag, 19. Juni 2016
Von Ulrike Abel-Wanek, Frankfurt am Main / Schon vor mehr als 100 000 Jahren wurden gebrochene Arme und Beine notdürftig gerichtet, geschient und gestützt. Die eigentliche Medizin für den Stütz- und Bewegungsapparat des menschlichen Körpers aber entstand erst im 18. Jahrhundert. Deutschlands einziges Orthopädie-Museum präsentiert orthopädische Krankheitsbilder und Therapiekonzepte im Wandel der Zeit.
Wirbelsäulenfehlbildungen, Frakturen, Tumore, Entzündungen: Das Demonstrationsskelett, das im Deutschen Orthopädischen Geschichts- und Forschungsmuseum Friedrichsheim in Frankfurt steht, weist fast alle Erkrankungen auf, die das knöcherne Stützsystem des Körpers haben kann. Professor Dr. Michael Rauschmann setzte den lädierten Knochenmann aus pathologischen und paläopathologischen Präparaten zu zusammen – zu Studienzwecken für Studenten ebenso wie für den Besucher.
Der Ärztliche Leiter Abteilung Wirbelsäulenorthopädie der Orthopädischen Universitätsklink Friedrichsheim ist verantwortlich für die konzeptionelle Gestaltung des Museums. Die Sammlung verstehe sich als wissenschaftliches Fachgedächtnis und Ort der Erforschung, Dokumentation und Bewahrung der Geschichte der Orthopädie und ihrer angrenzenden Gebiete, so Rauschmann. Aus Platzgründen kam das Museum von Würzburg, wo es 1959 auf Anregung des Orthopädie-Professors Georg Hohmann gegründet wurde, 1995 nach Frankfurt und wurde hier 1998 wiedereröffnet. Würzburg gilt als Wiege der Orthopädie, weil dort unter Leitung des Orthopädiemechanikers Johann Georg Heine 1816 die erste orthopädische Heilanstalt entstand. Eingeführt hatte den Begriff »Orthopädie« (griech.: das gerade Kind) schon der französische Arzt Nicolas Andry, der 1741 ein Buch unter diesem Titel veröffentlichte. Ganz im Sinne der Aufklärung forderte Andry eine natürliche, freie und ungehemmte Erziehung und Entwicklung von Kindern und empfahl, Verkrümmungen der Wirbelsäule oder Beine durch Schienen zu korrigieren. Ein Vorschlag, der revolutionär war, da Verformungen von Knochen und Gelenken als gottgegeben und nicht beeinflussbar angesehen wurden. Der Begriff »Orthopädie« wurde so populär, dass er schon bald ein eigenes medizinisches Fachgebiet bezeichnete. »Dabei war die Orthopädie eigentlich ein Kinderfach und ist erst später zum geriatrischen Fachgebiet geworden«, erläutert Rauschmann. Orthopäden des 19. Jahrhunderts nutzten das natürliche Wachstum von Kindern und Jugendlichen, um unter anderem angeborene Fehlbildungen von Fuß oder Hüfte, X- und O-Beinen sowie Skoliosen mithilfe von mechanischen Apparaten, Korsetts und Schienen zu korrigieren. Ein stationärer Aufenthalt von mehr als einem Jahr war dabei die Regel. Wachsmoulagen und Gipsabdrücke von Spitz- und Klumpfüßen, Trockenpräparate von hochgradig verbogenen Wirbelsäulen und historische Zeichnungen von Streck- und Zugmechanismen zur Reposition von zum Beispiel luxierten Hüften geben beim Museumsrundgang nicht nur einen lebhaften Eindruck vom Ausmaß damaliger Fehlstellungen. Die Exponate lassen den langwierigen, mühe- und oft schmerzvollen Prozess der Genesung Betroffener erahnen. In vielen europäischen Städten entstanden zunächst private Heilanstalten für eine wohlhabende Bevölkerungsschicht, die sich die zeitaufwendige und kostspielige orthopädische Behandlung leisten konnte. Später sorgten konfessionell gegründete und geführte sogenannten Krüppelheime auch für die orthopädische Versorgung von ärmeren Patienten. Viele von ihnen litten unter den körperlichen Folgeschäden damals weitverbreiteter Krankheiten wie Rachitis, Tuberkulose oder Kinderlähmung. Das Grundproblem der konservativen Orthopädie aber blieb: Die hohen Kosten durch lange Krankenhausaufenthalte waren für die meisten Familien unerschwinglich. Schneiden statt dehnen Die Wende kam mit der Chirurgie. »Die kontrakten Sehnen beim Klumpfuß zum Beispiel wurden nicht mehr über Monate oder Jahre gedehnt, sondern kurzerhand durchschnitten«, so Rauschmann. Das verkürzte den stationären Aufenthalt auf einen Bruchteil der bis dahin üblichen Zeit. Zwischen 1836 und 1841 wurden an der Berliner Universitätsklinik bereits mehr als 300 Patienten mit Klumpfüßen operiert – subkutan mit relativ geringem Risiko und guten Heilungschancen. Mit Einführung der Äthernarkose 1846 und der Antisepsis ab 1867 erfuhr die Orthopädie einen weiteren Schub, der die Eigenständigkeit des Fachs unterstrich und zur Abgrenzung von der allgemeinen Chirurgie führte. 1892 erschien die erste Zeitschrift für orthopädische Chirurgie, und 1901 gründete sich die Deutsche Orthopädische Gesellschaft. Die Ausstellung blickt in die Medizin- und Sozialgeschichte der Orthopädie, präsentiert bedeutende anatomische Standardwerke und Präparate, thematisiert aber auch die problematische Rolle des Fachs in der Zeit des Nationalsozialismus, als Krankheitsbilder wie Klumpfuß und Hüftdysplasie die Indikation für eine Sterilisation hatten. Die Geschichte der Beinprothetik – bereits 1545 erwähnte der Chirurg Ambrosius Paré eine Oberschenkelprothese aus Eisenblech, die sich im Knie abknicken ließ – steht exemplarisch für die enge Verbindung von orthopädischer Medizin und Mechanik. Die Exoprothetik habe sich speziell in Kriegszeiten wegen der schweren Verwundungen und häufigen Amputationen stark weiterentwickelt, so Rauschmann. Für eine schnelle Mobilisation habe man den Soldaten des Ersten Weltkriegs beispielsweise schon im OP die ersten abwinkelbaren Prothesen angegipst. Röntgen und Krafttraining Zu den medizinischen Grenzgebieten, ohne die die Orthopädie nicht denkbar wäre, gehörten auch die Röntgenstahlen, die erstmals den Blick ins Innere des Körpers freigaben und von Wilhelm Conrad Röntgen 1895 entdeckt wurden. 20 Minuten dauerten die ersten Wirbelsäulengesamtaufnahmen, für die der ganze Körper durchleuchtet werden musste. Wegen der hohen Strahlenbelastung setzte sich dieses Verfahren im Klinikalltag jedoch nicht durch. Auch die sogenannte Zandermethode konnte sich auf Dauer nicht halten. Das 1898 vom schwedischen Arzt und Physiotherapeuten Gustaf Zander entwickelte Reha-Gerät zur Kräftigung der Rückenmuskulatur erinnert zwar an heutige Fitnessgeräte, geriet wegen zu hoher Kosten und fehlender Mobilität aber bald wieder in Vergessenheit. Die Eiserne Lunge aus den 1960er-Jahren, der viele Poliomylitis-Patienten mit Zwerchfelllähmung ihr Leben verdankten, und erste Kunststoff-Implantate zur Versorgung von Schenkelhalsfrakturen weisen den Weg in eine moderne Orthopädie, aus der inzwischen viele Erkrankungen verschwunden sind – durch Früherkennung, Prophylaxe- und chirurgische Maßnahmen. Kein Kind muss heute noch an einer Hüftluxation oder einem Klumpfuß leiden. Dafür nehmen degenerative Leiden an Bandscheiben, Schulter- und Kniegelenken zu. Ein Gelenkphantom am Ende der Ausstellung zeigt, wie man hier helfen kann. Wer will, kann mithilfe einer Videoarthroskopie einen Meniskus entfernen oder ein Schultergelenk spiegeln. / Deutsches Orthopädisches Geschichts- und Forschungsmuseum – Orthopädische Universitätsklinik Stiftung Friedrichsheim Marienburgstraße 2 60528 Frankfurt am Main
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